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Für Sie gelesen: UTOPIE FÜR REALISTEN (von Rutger Bregman)

„Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das Bedingungslose Grundeinkommen“

Was der Autor im Untertitel in wenige Worte fasst – „ Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das Bedingungslose Grundeinkommen“ – sucht er im Laufe des Buches unter Zuhilfenahme von 409 Quellen als Hypothese zu beweisen.
Und er wartet wahrlich mit Grafiken, Beispielen und Fakten auf, die gar nicht weit hergeholt klingen und über die ohne Weiteres nachgedacht werden sollte. Schließlich sehen wir eine Welt auf uns zukommen, die wohl sehr unterschiedlich von der sein wird und sein muss, als der, die wir heute kennen.

Der Autor geht u.a. darauf ein, dass viele der „in Stein geschlagenen“ Grundsätze unserer heutigen Wirtschaft und Wirtschaftspolitik noch gar nicht so alt sind. Das BIP bringt es noch nicht einmal auf 100 Jahre. Schon Ford, Kellogs und Heath fanden heraus (der sogenannte Cornflakes-Kapitalismus), dass verkürzte Arbeitszeiten der Produktivität förderlich sind – und dem Arbeiter die Zeit geben, die Produkte, die er herstellt, auch zu erwerben.

Bewerten wir eigentlich alles in unserem Leben, unsere Arbeit und die Güter, die wir uns leisten, nach dem richtigen Prinzip? Sollte nicht vielmehr nach Werten statt nach Leistung gemessen werden – bei Produkten gleichwohl wie bei beim Menschen? Anschaulich stellt der Autor unser Wertesystem in Frage. „Bullshit-Jobs“ nennt er die, die im wesentlichen nichts produzieren oder in irgendeiner Form als Dienstleistung zum Wohle der Menschheit beitragen. Hierzu zählt der Banker genauso wie Anwälte und Werbestrategen. Ohne diese „Bullshit-Jobber“ würde die Welt nicht wirklich etwas vermissen. Trotzdem sind gerade dies die Branchen, deren Gehaltsschecks über Gebühr hoch sind, während die, die etwas produzieren wie der Bauer oder eine Dienstleistung erbringt wie der Altenpflegermit Kleinsteinkommen abgespeist werden. Sollten wir hier umdenken? Und, wenn ja, in welche Richtung?

Auch offene Grenzen – so provokativ das gerade heute klingen mag – ist ja keine neue Erfindung. Vielmehr hatten wir genau das bis zum ersten Weltkrieg. Erst danach ging es los mit Pässen, Einreisebestimmungen, Visas und anderen grenzüberschreitenden Massnahmen für Menschen. Vielleicht können wir aus er Vergangenheit doch noch etwas lernen.

Der Autor jedenfalls plädiert für eine Meritokratie – wo wir uns und unsere Produkte und Leistungen wieder an den Werten messen. Nicht zu Unrecht schrieb die Times über dieses Buch: „Rutger Bergman rüttelt uns auf.“

Nachstehend für Sie ein paar zusammengestellte Kernpunkte des Buches:

S. 35/36 – harte Fakten. Die Übergabe von Bargeld statt Hilfen führt zu einer besseren Verwendung und neuen Aktivitäten. Hierzu wird empfohlen, sich über die Organisation „Givedirectly“ (https://www.givedirectly.org/ )zu informieren. Auch ein weiteres Buch wird in diesem Zusammenhang angesprochen: „Just give money to the poor“. (Just Give Money to the Poor: The Development Revolution from the Global South by Joseph Hanlon (Author),‎ Armando Barrientos (Author),‎ David Hulme (Author).Hierin wird beschrieben, wie das Geld gänzlich unstereotypisch eingesetzt wird.

S. 62 – beschreibt in Grundzügen die Knappheitsforschung von Eldar Shafir. Der wahre Schuldige ist nicht das Geld, sondern die Ungleichheit der Verteilung. Zudem setzt uns die vermeintliche Knappheit unter Stress. Knappheit macht uns weniger einfühlsam und verständnisvoll, wir denken weniger voraus und handeln unkontrollierter.

S. 72 – Das BIP ist überholt, da es nicht das mißt, was wirklich zählt. Für das 21. Jahrhundert brauchen wir neue Kennzahlen. Das BIP ist überhaupt eine neuere Erfindung und war ausgelegt auf das 20. Jahrhundert.

S. 117 ff – spricht Keynes an und seine Darstellung „Ökonomischer Möglichkeiten unserer Enkel“: technologische Arbeitslosigkeit. Wie schon früher Marx und Benjamin Franklin war Keynes der Meinung, dass die Technologie uns einen besseren Nutzen unserer Freizeit ermöglichen sollte. Kellogs stellte fest: durch Verringerung auf eine Sechstagewoche konnte die Unfallrate um über 14% gesenkt werden, 300 mehr Arbeiter wurden angestellt und das Gemeinschafts- und Sozialleben in der Stadt boomte, weil Menschen plötzlich Zeit hatten (Cornflakes-Kapitalismus). Auch Heath entdeckte das Phänomen später und reduzierte während der Energiekrise auf eine 3-Tage Woche bei sage- und schreibe lediglich einer Produktionsverringerung von 6%.

S. 129/130 ff – Es war Henry Ford, der als Erster die 5-Tagewoche bei seinen Fabriken einführte, da er feststellte, dass seine Arbeitnehmer auch Freizeit brauchen, um den Wunsch zu verspüren, sich seine Autos kaufen zu wollen. Ohne Freizeit braucht man auch kein Auto. Der Autor berichtet hier auch über die Rolle, die Richard Nixon bei den Fragen Bedingungsloses Grundeinkommen und Arbeitszeitverkürzung spielte, was er befürwortete, aber seine Gegner nicht. Gewonnen hat nicht Nixon.
Anschaulich beschreibt die Autor, dass es vom Mittelalter bis zu den Achtziger Jahres des letzten Jahrhunderts mehr Freizeit für die Menschengegeben habe. Der Grund war der seinerzeit mangelnde Konsum. Erst mit den 80er Jahren wurde der Konsum angeheizt, und heute leben wir in einer Welt, wo jeder arbeiten muss, damit man sich den Konsum überhaupt noch leisten kann. Ein Übermaß an Stress und Arbeit sind heute ein Statussymbol.

S. 143 ff – Was würde sich verbessern bei einer Arbeitszeitkürzung? – Stress, Unfälle, Klima, Arbeitslosigkeit, Emanzipation, Elternzeit, Zeit für Senioren, Ungleichheit. Selbst bei langsamem Wirtschaftswachstum könnten wir bis 2050 weniger als 15 Stunden in der Woche arbeiten und dasgleiche verdienen wie 2000.
Was wäre dafür nötig: u.a. flexibles Ruhestandssystem, betriebliche Krankenversicherung pro Stunde und nicht pro Arbeitnehmer/Gehalt und ein Bildungssystem, das die Menschen auf die nützliche Verbringung ihrer Freizeit vorbereitet.

S. 154 ff – Es müsste ein Unterschied zwischen notwendigen Berufen (die, uns wirklich berühren, wenn sie streiken wie z.B. Müllmänner) und unnötigen Berufe (wie z.B. Werbedesigner)gemacht werden. Letztere schaffen nicht, sondern verschieben Wohlstand, da aktuell keine Produktion stattfindet. Zum Beispiel hat der Bankensektor anstatt den Kuchen zu vergrößern (etwas zu produzieren) bei der Bankenkrise einfach nur sein eigenes Stück am Kuchen vergrößert (den anderen etwas weggenommen). Übrigens geschah das basierend auf dem BIP als Messinstrument, woran man sehen kann, dass das BIP nicht geeignet ist, Produktion und Wohlbefinden von Menschen und Staaten wirklich zu bestimmen. Ohne Finanzwesen geht es nicht. Aber die Frage ist, ob es so aufgebläht sein muss.
All das führte dazu, dass in den letzten 30 Jahren keine wirkliche Innovation, sondern nur Nachbesserungen oder Neuverpackungen bestehender Produkte mit dem Zielstattfand, Profite umzuverteilen. Das Denkpotential, das all die Jahrhunderte zuvor in Innovationen und Ideen floss, fließt jetzt in Finanzkonstrukte.
Der Autor stellt die These in den Raum, dass für jeden Dollar, den eine Bank verdient, anderswo in der wirtschaftlichen Wertschöpfungskette 60 Cent an Wert vernichtet werden während für jeden Dollar, der in die Forschung fließt, 5 Dollar an Wert geschaffen werden.

Können also höhere Steuern für Spitzenverdiener dazu beitragen, dass sich mehr Menschen einen nützlichen Job suchen anstatt eines „Bullshit-Jobs“?
Sollten wir nicht fragen, womit wir unseren Lebensunterhalt verdienen wollen? Anstelle von müssen? Dazu muss die Bildung entsprechend verändert werden. Heute erzieht die Schule nach dem Motto: was ist nützlich für die Arbeitswelt. Wenn wir unsere Bildung jedoch an idealen und echten Werten ausrichten, wird die Arbeitswelt folgen.

Letztlich geht der Autor auch darauf ein, welchen Einfluß wohl Automation, künstliche Intelligenz und Roboter auf uns und die Arbeitswelt haben werden. Wir müssen unsere Welt so einrichten, dass wir als Menschen von den Robotern profitieren. „Das Ziel für die Zukunft ist Vollarbeitslosigkeit, damit wir spielen können“. (Arthur C. Clarke 1917-2008).

S. 213 – Offene Grenzen, so schreibt der Autor, würden ein Wachstum von 67-147% bewirken, abhängig von der Migration – das haben vier Wissenschaftlicher in unabhängigen Studien bstätigt. Laut Pritchett (Harvard) erhöht sich der globale Wohlstand um 65 Billionen Dollar. Somit wäre eine Öffnung der Grenzen die wirksamste Waffe gegen die Armut (S. 219)

S. 240 ff – Sehr interessant ist auch der Teil, in dem der Autor der Frage nachggeht, woher der Neoliberalismus eigentlich kommt. (S.242). Da gab es einmal eine Mount Pellegrin Society, 1947 gegründet, ein loses Treffen von 40 Intellektuellen, die mit Neoliberalismus als philosophischem Gedanken gespielt haben. 1970 übernahm Friedman den Gedanken und machte so langsam eine Doktrin daraus, die heute weltweit als das „Sinequa Non“ angesehen wird. Und die Politiker lehnen sich aus dem „Overton“ Fenster und schauen, wie weit sie gehen können.
Leider sind die Linken nach Meinung des Autors zu „Underdogs“ verkommen, die polemisieren, aber nicht wirklich etwas in die Hand nehmen und ausrichten. Wir brauchen eine neue Arbeiterbewegung, die allerdings nicht für höhere Löhne und Arbeitsplätze kämpft, sondern für eine Arbeit, die sinnvoll ist, nützlich und entsprechend entlohnt – auch und unter anderem mit einem angepassten, menschenwürdigen bedingungslosen Grundeinkommen.

Zum Autor:

Rutger Bregman
Rutger Bregman, geboren 1988 in den Niederlanden, ist Historiker und Journalist und einer der prominentesten jungen Denker Europas. Bregman wurde bereits zweimal für den renommierten European Press Prize nominiert. Er schreibt für die «Washington Post» und die «BBC» sowie für niederländische Medien.