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Aufbruch zu einem neuen WIR

Wir stehen heute – viele von uns sprachlos – vor dem Ende eines friedlichen Europas und der Perspektive eines Krieges mit Russland, der schon seit 2014 zunächst in Form meines Bürgerkrieges in der Ukraine begann. Somit ist es sinnvoll, zurückzuschauen und darüber nachzudenken, wie wir zu einer Wende gelangen, die uns den Frieden bringt.

Die Bevölkerung der sozialistischen Länder Osteuropas hat das Ende des Sozialismus hautnah miterlebt. In Deutschland war das aber nur ein knappes Drittel der Bevölkerung, während der größere Teil der Deutschen „einfach nur“ betroffen war. Das fing bei neuen Mitbürgern an, die plötzlich nebenan lebten, ging über neue Verkehrsverbindungen und touristische Ziele und endete bei Postleitzahlen und veränderten Steuerzahlungen.

Somit erleben wir in ganz Deutschland schon seit mehr als 35 Jahren ein neues WIR aus zwei grundverschiedenen Perspektiven. Theoretisch müssten wir folglich in Fragen der Gemeinsamkeit erfahrener und spezialisierter als alle anderen Bevölkerungen der Welt sein. Wenn da nicht ein großes Hindernis wäre: es gab Sieger und Besiegte.

Bürgerinnen und Bürger der DDR mussten lernen, sich den Kapitalismus anzupassen und waren aufgefordert, sich von dem alten System zu distanzieren. Wer das nicht tat, hatte mit Sanktionen zu rechnen, die existenziell sein konnten. Die ehemaligen politischen und wirtschaftlichen Führer der DDR wurden entmachtet und westdeutsche, in seltenen Fällen auch einmal ostdeutsche. Verantwortliche traten an ihre Stelle. Gehorsam wurde belohnt. Der westdeutsche Staat wurde mit jedem Jahr mächtiger. Er wurde zum deutschen Staat.

Das geeinte Deutschland dokumentierte also die Niederlage des Sozialismus. Seine Bürgerinnen und Bürger wurden von dem bereits seit vielen Jahrzehnten dominanten Wirtschaftsliberalismus überflutet: möglichst viel Freiheit des Einzelnen, möglichst wenig Staat. Die staatlichen Institutionen hatten auch mehr als genug damit zu tun, fünf neue Bundesländer und ein neues Berlin aufzubauen.

Ausgehend von dem Vereinigungs– und Vermischungsprozess der letzten mehr als 35 Jahre ist in Deutschland ein neues WIR entstanden, welches allerdings dem wirtschaftlichen und sozialen Diktat eines Systems unterworfen war und ist. Jedes Jahr nach 1989 bedeutete mehr von dem einen und weniger von dem anderen System, aber auch immer weniger Freiheit im Austausch über verschiedene Systeme und Gedanken. Auch wurde der Staat immer mächtiger und dringt heute in alle Bereiche unseres täglichen Lebens mit Gesetzen, Verordnungen, Regeln und Vorschriften ein.

In der Zeit nach 1989 überwog das Gefühl von Aufbruch, Freiheit, Innovation, Perspektive und Möglichkeiten, von Freude und Hoffnung. Für einen Teil der Menschen in den neuen Bundesländern starb dieses Gefühl sehr schnell oder konnte erst gar nicht aufkommen. Auch ein Teil der Menschen in Westdeutschland betrachtete die Entwicklung mit Skepsis und Argwohn. Beide Gruppen der Bevölkerung bekamen jedoch in der Öffentlichkeit keine bedeutende Plattform.

Zunehmend aber wurde bestimmten Meinungen der Hahn abgedreht. Zu denken ist an all jene, die der Einwanderung anderer Nationalitäten und Religionen nach Deutschland öffentlich Skepsis entgegen brachten, zum Beispiel an Thilo Sarrazin. Er hatte mit politischen Sanktionen und sogar Auftrittsverboten zu kämpfen. Die andere Strömung, die offensiv bekämpft wurde, war die der Skepsis gegenüber einem stärkeren Engagement in der europäischen Union. Diese manifestierte sich in der Gründung einer Partei, der AfD. Inzwischen fließen die kritischen Stimmen zum Thema Einwanderung und EU – Mitgliedschaft in der AfD zusammen.

Interessant ist es nun, dass diese kritischen Stimmen sogar mit einem Verbot belegt werden sollen. Sie dürfen zunehmend öffentlich gar nicht mehr geäußert werden und werden sogar mit Berufsverbot belegt, Noch massiver wird dies in der Frage der Zionismuskritik deutlich. Setzt sich diese Entwicklung weiter fort, so werden auch Stimmen, die ein neutrales Deutschland oder gar den NATO-Austritt Deutschlands fordern bzw. nach einer stärkeren Präsenz der russischen Stimme in Deutschland Bruder Frieden mit Russland rufen, mit Sanktionen belegt werden. Wollen wir das? Ist das die Demokratie, nach der wir uns 1989 gesehnt haben und von der wir überzeugt waren?

Hinzu kommen mittlerweile mehrere Millionen neuer Einwanderer mit anderer Kultur, anderer Geschichte und anderer Sprache. Auch das hat Auswirkungen auf unser WIR. Von einer homogenen Bevölkerung in Deutschland können wir heute also nicht mehr sprechen.

Fassen wir zusammen: wir leben zwar auf einem gemeinsamen Territorium – Deutschland – und haben nur eine Amtssprache – Deutsch – und nur eine Verwaltung, eine Gesetzgebung, ein Steuersystem – wir haben aber Menschen mit ganz verschiedener Geschichte, Kultur und teilweise auch Sprache und Religion. Wie kann unter diesen Bedingungen ein neues WIR aussehen?

Um friedlich und erfolgreich zusammenzuleben, brauchen wir heute mehr denn je Mitgefühl, Verständnis, das Zuhören, die Akzeptanz, Toleranz, Freundlichkeit, Verständnis, Liebe, Achtung , Improvisation, Phantasie, Offenheit, Großherzigkeit, Höflichkeit, Zuverlässigkeit, Geduld, Zusammenhalt, aber auch Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit. Auf der Basis eines gesunden Selbstwertsystems kann man andere einfacher so annehmen, wie sie sind.

Wenn wir eine Bewegung für ein neues Wir schaffen wollen, beginnt dies mit unserer eigenen täglichen Praxis. Wir können täglich mehr Glück, mehr Gesundheit, mehr Frieden, mehr Gerechtigkeit und mehr Zusammenhalt vorleben. Wir können lokale und überregionale Netzwerke schaffen und uns bereits bestehenden Netzwerken anschließen. Wir können dort, wo wir leben, die Gemeinschaft stärken und kommunale Verbesserungen erreichen. Dies geht durch Gemeinsamkeit und gegenseitige Unterstützung.

Es ist Zeit, das Gegeneinander zu überwinden, uns vom schwarz–weiss–Denken, vom plus-minus-Bewerten zu verabschieden und zu erkennen, dass die Welt bunt und mindestens grau ist. Es ist Zeit, wieder mutig seine Meinung zu sagen und den offenen Dialog zu fordern. Demokratie heißt Freiheit und verlangt Mut zur Freiheit. Nun gilt es, mit eigenem Beispiel mutig, voranzugehen.

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