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Dialog zwischen Klang und Bild

Der Percussionist Günter Baby Sommer interpretierte in einem Konzert in der Maloca Auerstedt den von Michael Arantes Müller geschaffenen grafischen Zyklus „Totentanz“. Die stimmungsvolle Video-Performance dazu lieferte der Berliner Künstler Lucas Böttcher.

„Wer sich in Zeiten wie diesen nicht um den Tod kümmert, hat seine künstlerische Verpflichtung verfehlt. Wer im Angesicht des um sich greifenden Todes versäumt, über den Tanz zu reden, hat seine künstlerische Bestimmung ebenfalls versäumt.“ Treffender hätte Medienkünstler Micky Remann den dem „Totentanz“ gewidmeten Abend am 12. Oktober in der Maloca Auerstedt nicht anmoderieren können.

„Wer sich in Zeiten wie diesen nicht um den Tod kümmert, hat seine künstlerische Verpflichtung verfehlt. Wer im Angesicht des um sich greifenden Todes versäumt, über den Tanz zu reden, hat seine künstlerische Bestimmung ebenfalls versäumt.“ Micky Remann

Mit einem Konzert des Percussionisten Günter Baby Sommer aus Radebeul und einer begleitenden Video-Performance des Berliner Künstlers Lucas Böttcher fand der „Offene Atelier“-Tag von Michael Arantes Müller einen krönenden Abschluss. Sein Arbeitsraum befindet sich gleich gegenüber der Maloca an der Hauptstraße des Ortes.

Die Maloca in Auerstedt vermittelte eine unverwechselbare Atmosphäre: Sie war Veranstaltungsort für das „Totentanz“-Konzert.  
Marion Schneider und Klaus Dieter Böhm freuten sich besonders auf die Veranstaltung in der Maloca Auerstedt: Gemeinsam mit ihren Freunden Michael und Elisa hatten sie 2023 Günter Baby Sommer den „Totentanz“-Zyklus zu seinem 80. Geburtstag geschenkt und den Künstler damit zu diesem Konzert angeregt.
Foto: MS-Archiv

Der in Berlin, Auerstedt und Gamboa (Bahia/Brasilien) lebende und arbeitende Kunstschaffende hatte im vorigen Jahr, wie er dem Publikum vorab berichtete, aus „Betroffenheit über unsere Tage“ seinen „Totentanz“ geschnitten und diesen nicht an die mittelalterliche Tradition angelehnt, sondern an Begriffen orientiert, „die uns zum Tod und zu Vernichtung führen“. Als er mit Freunden 2023 Günter Sommer zum 80. Geburtstag eine Mappe mit den diesbezüglichen Holzschnitten schenkte, war der für seine innovativen Jazz-Performances und musikalischen Grenzgänge bekannte Schlagzeuger tief beeindruckt und sofort von der Überlegung beseelt, daraus etwas Gemeinsames zu schaffen.

Unverwechselbare musikalische Sprache

Der in Dresden geborene Günter Baby Sommer gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des zeitgenössischen europäischen Jazz. Mit einem hoch individualisierten Schlaginstrumentarium entwickelte er zugleich eine unverwechselbare musikalische Sprache. Mit musikalischen Beiträgen für wichtige Jazzgruppen der DDR wie dem Ernst-Ludwig-Petrowksy-Trio, dem Zentralquartett und der Ulrich Gumpert Workshopband schaffte Sommer den Einstieg in die internationale Szene. Er arbeitete nicht nur im Trio mit Wadada Leo Smith und Peter Kowald, sondern traf mit so wichtigen Spielern wie Peter Brötzmann, Fred van Hove, Alexander von Schlippenbach, Evan Parker und Cecil Taylor zusammen. Sommers Solospiel sensibilisierte ihn für Kollaborationen mit Schriftstellern wie Günter Grass. Seine beeindruckende Diskografie umfasst über 100 veröffentlichte Audio-Datenträger. Als Professor an der Musikhochschule in Dresden vermittelt er zeitgenössischen Jazz an die nachfolgenden Generationen.

Rhythmisches Gesamtkunstwerk

Die von Arantes Müller im Rahmen seines Zyklus geschaffenen 12 Motive „Irr-tum“, „Gier“, „Hybris“, „Greuel“, „Hohn“, „Hass“, „Lüge“, „Neid“, „Rache“, „Betrug“, „Raub“ sowie „Offenbarung“ interpretierte Sommer in Auerstedt auf seine Weise. Er schuf ein rhythmisches Gesamtwerk aus sich abwechselnden lauten, sanften, aufrüttelnden Klängen. Jedem „Totentanz“-Begriff verschaffte er eine unverwechselbare und in ein Gesamtwerk eingebettete Identität.

Als besonderer Höhepunkt erwies sich ein an das Gedicht „Kinderlied“ von Günter Grass angelehnter musikalisch begleiteter Wortbeitrag: „Wer hier stirbt, ist gestorben. Wer hier stirbt, ist abgeworben. Wer hier stirbt unverdorben, ist ohne Grund gestorben“. Damit spielte Günter Sommer auf eine vom Totalitarismus bedrohte Welt an. Denn das von Grass 1958 verfasste und 1960 im Band „Gleisdreieck“ erschienene „Kinderlied” wird als brutale Erfahrung der totalitären Diktatur gedeutet, die einen umfassenden Anspruch an das Individuum erhebt und deshalb auch das Lachen, Weinen, Schweigen, Spielen und Sterben als Ausdruck von Freiheit und Selbstbestimmung nicht zulässt. Andererseits zeige es laut einer Definition der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen für Wissenschaft und Forschung, wie die Disposition zur Unterwerfung tief im Menschen angelegt sei und daher schon das Kinderspiel in Gemeinheit und tödlichen Ernst umschlagen könne.

„Wer hier stirbt unverdorben, ist ohne Grund gestorben“.

Der von Günter Sommer ohne jede Pause erzeugte klangliche Widerhall zu Michael Arantes Müllers „Totentanz“ verinnerlichte die Vergänglichkeit des Lebens und die Unerbittlichkeit des Todes. Die auf eine Leinwand projizierten bewegten Bilder von Lucas Böttcher leiteten auf die konkreten Motive ein und bildeten einen stimmungsvollen, geradezu festlichen Hintergrund. Das ermöglichte ein intensives Betrachten der jeweiligen in den Mittelpunkt der bildlichen Darstellung erhobenen „Totentanz“-Motive und somit das Erleben eines interdisziplinären Dialogs zwischen Klang und Bild. Ein Verinnerlichen, das so in einer gewöhnlichen Ausstellung für den Betrachter eines Werkes nicht möglich scheint.

Lucas Böttcher, Günter Baby Sommer und Michael Arantes Müller freuen sich über ihr Gesamtkunstwerk.
Fotos (3): Marion Schneider

Das Publikum zeigte sich zum Schluss des unter anderem vom Institut für kulturelle Vielfalt e.V., dem Romantik Hotel Hofgut Auerstedt und der Toskanaworld AG unterstützten Events begeistert. Sommer, Böttcher und Arantes Müller lagen sich ob des sichtlich gelungenen, vom „Totentanz“-Schöpfer bezeichneten „einmaligen Experimentes“ erleichtert in den Armen. Wer diese drei unverwechselbaren, in ihrem jeweiligen Metier als Meister ihres Fachs erwiesenen Künstler an diesem Abend erlebte, erahnt es: Es könnte durchaus nicht ihre letzte gemeinsame Performance gewesen sein. 

Jörg Schuster

Beitrag über ein Gesamtkunstwerk

Ein Beitrag über das Konzert und ein Gespräch, in dem Michael Arantes Müller seinen Zyklus „Totentanz“ erklärt, ist über nachfolgenden Button aus der Mediathek von salve.tv abrufbar:

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