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Zum sozialen Leben in Russland

Juni 2024 – Ein Reisebericht

Mit jedem Tag auf meiner Reise durch Russland in die Mongolei wird mir klarer, dass die Geschlechterrollen hier in Russland fest und sicher umfassend gelebt werden. Schon die Kinder sind ganz offensichtlich Mädchen oder Jungs.

Unbeschwerte Geschlechteridentität

Ich möchte es unbeschwerte Geschlechteridentität nennen. Dies hat umfassende Folgen: das soziale Bild wird von gegengeschlechtlichen – übrigens meist glücklich aussehenden – Paaren und Familien bestimmt. Die Kinder sind natürlicher Teil des Lebens und Straßenbildes, und für ihre Beschäftigung und Betätigung gibt es überall Spielplätze, die vielfach Teil von Parklandschaften und entsprechend groß sind. Paare bestimmen das Stadtbild, wobei öffentliche Zärtlichkeiten eher die Seltenheit sind, wohl aber, dass Männer ihre Frauen bzw. Freundinnen fotografieren oder filmen. Auch Kinder stellen sich ganz natürlich und geübt den Eltern oder Großeltern als Fotomotive zur Verfügung. Wir haben im Straßenbild übrigens viele Schulen und Kindergärten und viele Kindergruppen unter Führung ihrer Lehrerinnen oder Lehrer gesehen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass jetzt Schulferien sind und zu dieser Zeit viele Angebote für Kinder und Jugendliche bestehen.

Wert auf Kleidung

Schon in Litauen fielen mir die vielen schönen, jungen, schlanken Frauen auf, die es lieben, ihre Beine zu zeigen. Dies setzt sich in Russland fort. Hier haben die meisten jungen Frauen und Mädchen, die ich bisher sah, lange Haare, die in der Regel sehr gepflegt sind. Sie legen Wert auf ihre Kleidung, ohne affektiert zu wirken. Ab und zu gibt es aber auch besonders große Ausschnitte, Paillettenkleidung, modisches Schuhwerk oder rückenfreie Shirts.

Die beiden beliebtesten Kleidungsstücke der Frauen im europäischen Teil Russlands bis Kasan sind ganz kurze Hosen, die allerdings unterhalb der Pobacken abschließen (nur zwei Mal sah ich höher geschnittene) und in der Regel makellose Beine zeigen, sowie Hosen mit breiten Hosenbeinen, aber eng geschnittener Taille. Die Hosenbeine fließen, und das sieht meist sehr elegant aus. Auch hier wieder auffallend, dass diese Mode meist Frauen mit entsprechender Taille tragen. Für alle anderen Frauen gibt es die vollständige Vielfalt hinsichtlich der Kleidung. Jetzt im Sommer werden vielfach wadenlange Sommerkleider getragen oder manchmal auch solche, die nur kurz über das Knie gehen.

Seit Kasan hat sich nach meiner Beobachtung einiges geändert, was natürlich durch den etwa hälftigen muslimischen Anteil mit bewirkt wird. In Kasan also sah ich alle möglichen Stile der Frauen harmonisch vereint, wobei die Bedeckung des Kopfes nur von einer Minderheit getragen wurde. Jetzt im Ural und in Sibirien, wo es wie in Kasan ja sehr viel kälter wird und auch länger kalt bleibt, gibt es auch etliche Frauen mit den bei uns derzeit üblichen engen langen Hosen, und eine sah ich sogar mit dem modischen Riss am Knie. In Kasan trugen auch mehr Menschen – Männer wie Frauen – klobige, breite Schuhe bzw. Turnschuhe.

Frauen mit verschiedenen Kleidungsstilen

Die Männer scheinen gute Familienväter zu sein. Sie lassen ihrer Frau die Mutterrolle, stehen aber hinter ihr und unterstützen sie dabei. Das ist sehr schön anzuschauen, zumal es sich von jung bis alt durchzieht, so dass wir auch liebevolle, aktive Großväter sehen. Oft weiß ich nicht, ob es sich um Eltern oder Großeltern handelt. Jedenfalls fiel mir die entspannte Harmonie der beiden Eltern- oder Großeltern-Teile auf, die etwas mit der Akzeptanz ihrer gesellschaftlichen Geschlechterrolle zu tun haben könnte. Die Kinder sind entsprechend selbstbewusst und zielstrebig, Konflikte zwischen Eltern und Kindern habe ich bisher selten gesehen. Ich habe außerdem den Eindruck, dass die Akzeptanz der Geschlechterrollen und auch der Familie an sich dazu führt, dass man sich mit mehr Liebe und Zuwendung begegnen kann, da nicht ständig Fragen und Zweifel hinderlich sind.

Unauffällige Integration

Es gibt bei genauem Hinschauen eine Vielfalt von Ethnien und Religionen, doch sie integrieren sich unauffällig in das Straßenbild. So sieht man Menschen mit asiatischem Aussehen wie auch mit dunklerer Haut. Schwarzhäutige Menschen sah ich erst dreimal, jedes Mal Männer. Natürlich fallen sie besonders auf.  Bis Kasan sah ich auch etwa 30 Frauen mit bedecktem Haar im Straßenbild, in Kasan dann natürlich mehr.

Durch die Isolationspolitik des Westens, Russland betreffend, gibt es fast gar keine Touristen aus dem Ausland – wir trafen zweimal Chinesen – und das jetzt schon seit vielen Monaten. Dies scheint sich nicht unbedingt negativ für die Einzelnen bemerkbar zu machen, das Land ist groß und Menschen, die russisch sprechen, gibt es folglich mehr als genug. Was sollen die Einzelnen auch tun? Es wirkt allerdings langfristig auf die Einstellung der Menschen in solcher Weise, dass sie sich mit „dem Westen“, der kulturell eigentlich ein Teil von ihnen ist, nur noch auf ihre Art beschäftigen. Sie können ja keinen Austausch pflegen. Auch an ein Visum für Deutschland zu kommen, gestaltet sich als äußerst zeitraubend wie unkalkulierbar. So muss man mindestens einen Monat auf einen Termin warten, bei dem allerdings nur vorgetragen werden kann, warum man nach Deutschland kommen möchte. Der nächste Termin zur Beantragung des Visums lässt länger auf sich warten – drei bis sechs Monate sind die Regel. Das Visum kann jedoch auch abgelehnt werden.

Das ist nicht gut für uns

So ist die Frage zu stellen – für Ost wie für West – wie sich die momentane Politik auf das Bedürfnis der Jugendlichen auswirkt, Fremdsprachen zu lernen. Nach meiner Einschätzung bewirkt unsere derzeitige deutsche Politik, dass weniger Menschen Deutsch lernen wollen. Auch die Finanzierung der Goethe-Institute, die für das Verständnis unserer Sprache, Kultur und Politik im Ausland zuständig sind, wurde zurückgeschraubt. Das ist nicht gut für uns, denn wir brauchen doch – auch langfristig – qualifizierte Zuwanderung.

„Bei Euch in den Medien macht man uns täglich zu Ungeheuern.”

Ich wurde bisher überhaupt noch nicht gefragt, woher ich komme, obwohl ich sicher nicht wie eine typische Russin aussehe. Die Menschen hier sind sehr zurückhaltend. Eine Museumsaufsicht, mit der wir ins Gespräch kamen, drückte ihre Freude über unseren Besuch so aus: „Bei Euch in den Medien macht man uns täglich zu Ungeheuern. Und das ist gar nicht so. Für mich war die deutsche Kultur immer wichtig, weil ein Teil meiner Vorfahren deutschstämmig ist. Mein Urgroßvater war ein Baltendeutscher und meine Deutschlehrerin war meine Lieblingslehrerin.“ Sie freute sich jedenfalls, dass wir da waren und hat uns eine gute Reise und schöne Erlebnisse gewünscht.

Noch nicht vom russischen Bären gebissen worden?

So war es bisher immer: wenn wir ins Gespräch kamen – und unsere Iwana spricht ja Russisch wie ihre Muttersprache – haben sich die Menschen über unseren Besuch gefreut. Manche brachten auch zum Ausdruck, dass sie die Situation in Deutschland beobachten und bedauern, dass sich unsere wirtschaftliche und politische Lage verschlechtert. Über die deutsche Außenpolitik hat sich bisher niemand direkt geäußert, obwohl das im Fernsehen das Hauptthema der Nachrichten ist. Diskret und mit einem Lächeln im Gesicht fragte uns ein Herr, nachdem er hörte, woher wir kommen, ob wir denn noch nicht vom russischen Bären gebissen worden seien.

Wenn man die Aufteilung der Menschheit in zwei verschiedene Geschlechter und das damit verbundene Familien- oder auch Sittenleben als die natürliche Ordnung ansieht, dann leben die Menschen in Russland noch nahe an der Natur. Dies wird durch die herrschende Politik wie auch den herrschenden Glauben gefördert und aktiv gewollt. So trafen wir ins Nischni Nowgorod eine große Gruppe von Männern, Frauen und vielen Kindern und erfuhren, dass es sich um kinderreiche Familien handelt, die Teil des Programms „Die große Familie – die Stütze Russlands“ waren. Es handelt sich um einen Wettbewerb, ausgeschrieben vom „Haus der russischen Völker“ für Projekte im Zusammenhang mit der Nationalitäten-Politik, und es gibt dieses Projekt seit 4. März 2020. Ziel ist die Schaffung von Bedingungen zum Erhalt, zur Wiedergeburt und zur Entwicklung der nationalen Kulturen und Sprachen der 194 Völker der russischen Nation.

Leben im Einklang mit der Natur

Auch in der Religion ist die Grundlage der Menschheit die Schaffung von Mann und Frau. Wenn dies heute durch moderne Forschung differenziert, in Frage gestellt oder sogar überwunden werden soll, so stellt sich für jeden von uns die Frage, welchen Weg wir gehen wollen. Meiner bisherigen Erkenntnis nach ist ein Leben im Einklang mit der Natur und somit der Erhaltung der natürlichen Vielfalt der Weg, für den die Menschheit sich entscheiden sollte. Es gibt aber mittlerweile eine starke und immens wichtige Bewegung, die die Herrschaft über die Natur anstrebt und davon ausgeht, dass sie auch die Herrschaft über die Menschheit erlangen sollte. Dies gelingt nur durch Überwindung von Tradition, Kultur, Nation und Religion – eine friedliche Koexistenz ist hier meiner Einschätzung nach nicht möglich. Auch deshalb befindet sich die Menschheit im Krieg.

Seit Kasan verändern sich die Menschen in Aussehen und Kleidung. Ich ende diese Zeilen in Omsk. Die Menschen und ihr Verhalten hier ähneln sehr viel mehr unserer Welt in Deutschland. Woran das liegt, kann ich nicht sagen. Das Wetter wird eine Rolle spielen. Und ob der deutsche Bevölkerungsanteil von 1,3 Prozent vielleicht einen Beitrag leistete?